Die Materialbedeutsamkeit als Ansatzpunkt am Beispiel der Serie „Geschichte"

Der Grundgedanke der Bildbetrachtung setzt zum einen voraus, daß Bilder in ihrer strukturellen und formalen Einordnung der Gestaltung und der Form einem Gegenstand ähnlich sind, oder als ein solcher gedeutet werden kann. Und zum anderen durch sein assoziatives Sehen auf diese Strukturen- und Formerkennung, wobei sich im Geiste ein „sichtbares" Bildmotiv visuell konstituieren kann. Wenn Material und Form sich begegnen, entsteht eine besondere Atmosphäre, die mit gewohnten künstlerischen Mitteln nicht erfasst werden kann. Henriette Müller hat diese Bedeutung des Materials erkannt und suchte nach dem ungewöhnlichen Medium und spannenden Verbindungen, um ihre eigenen Ideen aus mehreren Perspektiven zu vermitteln.

Bei der Serie „Geschichte" handelt es sich um eine dreiteilige Reihe collagierter Ölbilder, in welche hundert Jahre alte historische Kleidungsstücke als Malgrund eingearbeitet sind. Die großformatigen Bilder sind mit Namenskürzeln signiert, die eine persönliche Widmung jedes einzelnen Bildes aussprechen.

Das erste Gemälde „Für R. B. - aus der Serie Geschichte" stellt eine in Grün und Gelb arrangierte abstrakte Komposition dar, die im unteren Rand durch ein schmale, blauschwarze Fläche marginal akzentuiert wird. Die Faltenformen und die Knöpfe verraten die Schnittform eines Hemdes, das wie ein schwebender Korpus in einer grünen, verträumten Landschaft wirkt. Die horizontal liegende Naht des Hemdes und der symmetrische Halsausschnitt auf der linken Seite erwecken den Eindruck, eine sich im Wasser spiegelnde Seenlandschaft darzustellen. Das monochrome Grün spricht für die Reinheit, Frische, für die Jugend und für die Unreife menschlicher Natur, und macht diese Symbolkraft durch das dominierende Couleur zum Grundgedanken der Komposition. Die plastische Wirkung der Faltenformen ist intensiviert durch die eingearbeiteten gelben Nuancen. Das geöffnete Hemd als Objekt in der Komposition symbolisiert die Entblößung des menschliches Körpers, das Gefühl verlassen und nicht gebraucht zu sein. Hier liegt die Naturbegegnung nicht in der von der Künstlerin angedeuteten Landschaft, sondern im Betrachten selbst, wo die innerliche Sinnesempfindung über die menschliche Gestalt reflektiert. Die Erkundung nach dem Individuum und nach der menschlichen Natur, die wie eine raue Naturszenerie unbekleidet vor uns liegt, wagt eine persönliche Geschichte darzustellen. Henriette Müller lässt den Betrachter am Ufer - am unteren dunklen Rand des Bildes, um von dort die Seenlandschaft als Situation zu beobachten und eröffnet Fragen nach der Zugehörigkeit und dem Charakters des unsichtbar Dargestellten.

Das zweite Bild „Für J. G. - aus der Serie Geschichte" zeigt überkopf die Form eines Kleides. Eine breite, geschlossene Fläche im unteren Bereich zusammen mit den kleineren, schmalen Teilen seitlich des Hemdes können als konstruktives, architektonisches Arrangement bezeichnet werden. Die zwei schmalen Bänder auf der rechten Seite deuten auf ornamentale und schmückende Fragmente hin. Die Darstellung von Räumen und Flächen in dieser Komposition charakterisiert Bruchstücke eines imminenten Aufbaus und die Vorahnung eines Zusammenfügens einzelner Elemente, die im Bild zueinander passend liegen. Es entsteht, ganz im Gegenteil zum ersten Bild, nicht der Eindruck des Verlassenseins und der Entblößung. Hier ist die Erwartung und die Hoffnung dargestellt, der Wunsch nach einem erneuten Zusammenführen der einzelnen Teile. Die Frage nach dem Individuum ist hier nicht in den Vordergrund gerückt, sondern die Spuren menschlicher Träume und Sehnsüchte. In diesem Sinne verwendet Henriette Müller triviale Gegenstände als Materialien und anonymisiert deren Herkunft, indem sie mit der Form des Materials und der Fläche des Objekts als Vorhang eine reizvolle Kulisse spielt. Die Geschichte wird nicht dargeboten und nicht ausgelegt.

Mit dem dritten Bild „Für M. W. - aus der Serie Geschichte" schließt die Bildfolge mit der Darstellung eines Objekts ab, in dem die Vollständigkeit des zugeknöpften Vorderteils eines Rockes und die klare Form des Rückenstücks mit Falten die Vollkommenheit des erreichten Ganzen akzentuiert ist. Die blau dominierende Komposition steht für Beständigkeit, Ruhe, Frieden und Harmonie und bekräftigt die Ausführung der klaren Farbigkeit der drei Bilder, die in den Grundfarben dominieren. Durch das parallele landschaftliche Umfeld im ersten Bild und der eingebetteten Vorstellung menschlicher Wunschbilder im zweiten, und im dritten Bild der Darstellung des Daseins menschlichen Seelenfriedens, entsteht eine spannende Verbindung der künstlerischen Auseinandersetzung unter verschiedenen Gesichtspunkten der Künstlerin durch die Anwendung eines außergewöhnlichen Materials. Diese Darlegung und die Interpretation als symbolischem Wert zeigen uns, wie bewegend die Suche nach Materialbedeutsamkeit ist. Das Material wird sinnbildlich eingesetzt, um die Relevanz der inhaltlichen Aussage des Kunstwerks zu akzentuieren.

Henriette Müller eröffnet mit der Reihenfolge der Serie „Geschichte" nicht die Frage nach dem Lebenswandel bestimmter Individuen, sondern sie drückt das Verständnis eines ganzen Universums aus. Sie erkundet die zeitlichen Umwandlungen durch die unpersönlichen Darstellungen der Weltensicht gegenüber dem Unvergänglichen. Von großer Bedeutung für die Künstlerin ist, die Akzente durch Details als klare und stilisierte Abschnitte, als Teile des Ganzen darzustellen, was dem Betrachter offeriert, das Bild in seiner Innenwelt zu Ende zu „malen". In Aufeinanderfolge dreier unterschiedlicher Lebensumstände, die als Zeitepochen menschlicher Existenz betrachtet werden können, werden Entstehungsprozesse, Teilungen und Vollendungsprozesse beschrieben. Dieser Ausdruck spiegelt die Reinheit der Bild-Räumlichkeiten wider, die durch überzeugenden Einfluss der Expression in eindrucksvoller Art und Weise Ruhe und Frieden ausstrahlt.

Juliana Hellmundt, Kunsthistorikerin
Oktober 2016

J. Hellmundt über die Serie "Geschichte"